Wandererlebnisse

Das Kälbchen

verfasst von Georg Herbold


Nassneblicher Tag, nassneblicher Morgen,
im Nebel und Dunst war die Welt halb verborgen.
Ein Tier sahen wir schemenhaft vor uns stehen,
ob Hund, ob Reh war zunächst nicht zu sehen.


Wir Dienstagswanderer waren verschreckt,
als wir ein Kälbchen dann haben entdeckt,
ein Kälbchen ganz einsam am Wegesrand,
wo es schwankend auf zittrigen Beinen stand.


Ganz einsam, allein, keine Kuh weit und breit,
wie vom hohen Himmel hierher geschneit.
Woher es kam, war ein Rätsel fürwahr,
wohin es wollte, das sahen wir klar.


Einen Steilhang hoch wollt`es, fiel wieder herab,
es versuchte zu klettern und rutschte stets ab.
Die Kräfte schienen es zu verlassen,
wir wollten ihm helfen, bekamens zu fassen.


Schleimklebriges Fell, schleimklebrige Ohren,
weiße Nabelschnur unten, es war eben geboren.
Wir haben den Blick den Hang hoch gerichtet
und eine Weide dort oben gesichtet.
Sie lag hinter Büschen und Bäumen versteckt,
im Nebel hat unklar man nur sie entdeckt.


Zuerst nur Vermutung, Gewissheit dann allen:
Das Kalb war den Abhang herunter gefallen,
aus der Mutter Leib den Steilhang hinab
und wenn wir ihm nicht halfen, ins sichere Grab.


Horst Feiler hat die Parole gegeben:
,,Wir retten das Kälbchen, das Kälbchen soll leben!
Wir bringen`s zur Mutter, zum rotbuntem Vieh!”
Das Ziel war klar nun. Die Frage war, wie?


Die Aufgaben waren schnell verteilt:
Nach Giebringhausen sind Wandrer geeilt:
Die sollten dort den Bauern erkunden,
dessen Kälbchen wir eben am Wege gefunden.


Die anderen, das mag einfach klingen,
die sollten das Kälbchen zur Weide hinbringen,
einen Feldweg leicht steigend, zum Weideeingang,
zuletzt ein Stückchen den Stacheldraht entlang.


Doch wer Kälbchen kennt, der weiß nicht nur,
das Kälbchen von Geburt an stur,
der weißauch, dass sie opponieren,
will man den rechten Weg sie führen.


Schiebt man zurück, woll`n sie nach vorn,
dies Tun ist ihnen angeboren.
Zieht man nach vorn, woll`n sie zurück,
sie zu führen, braucht viel Geschick.


Das hatten reichlich, ohne Scherz,
Siegfried Rohde und Martin Beisenherz.
Die beiden sind seid jungen Jahren
in Land- und Viehwirtschaft erfahren.


Dem Martin und Siegfried es gelang,
das Kälbchen kam gottlob in Gang.
Der Martin schob, der Siegfried zog,
dass es nicht links, nicht rechts ausbog.


Auf Schieben und Ziehen zugleich reagieren,
da war es verwirrt, da ließ es sich führen.
Als wir der Weide so näher kamen,
wurden neugierig alle Rotbuntdamen.
Sie sammelten sich schnell am Stacheldrahtzaun,
sie wollten das Kälbchen von nahen anschauen.


Von der Sehnsucht der Kuh nach dem Kälbchen gerührt,
waren wir schnell zu der Hoffnung verführt,
das Kälbchen sei bei den Seinen willkommen,
in die Rotviehfamilie schon aufgenommen.


Wir schoben das Kalb unterm Draht zu den Kühen,
wir glaubten uns glücklich am End`aller Mühen,
wir glaubten, wir hätten das Spiel schon gewonnen,
doch das Schauspiel hatte gerad erst begonnen.


Die Kühe, im Halbkreis ums Kälbchen herum,
beschnupperten es und berochen es stumm.
Doch sie haben Abstand zum Kälbchen gehalten,
folgten so ihrem Trieb und natürlichen Walten.

Denn keine hat Fell und Ohren beleckt,
die Mutterkuh haben wir nicht entdeckt.
Bei den Kühen hat das Kalb keine Liebe genossen
und fühlte sich hilflos zurückgestoßen.

 

Es sah nun am Drahtzaun die Menschenschar,
die mit ihm zur Weide gezogen war,
und wandte sich nun uns wieder zu,
betrachtete Siegfried als Mutterkuh,
den Martin als Vater, uns alle als Tanten,
als Oma, Cousinen und Anverwandten.

 

Mit uns wollt`es wandern, der Weide entfliehen,

es war menschengeprägt nun, wollt`mit uns weiter  ziehen.
Um Siegfried der Mutterpflicht zu entbinden,
musste die wahre Mutter wir finden.
Wir standen nun wieder am Anfang der Sorgen,
wir mussten jetzt handeln, es galt kein ,,morgen”.

 

Es fehlte die Mutter, da half kein Fluchen,
nichts half uns, wir mussten die Mutterkuh suchen,
und fiel das Suchen auch noch so schwer,
wir mussten sie finden, die Kuh musste her.

 

In der Weide zu suchen, das war Martins Verlangen,
zum Fundort das Kälbchen ist Georg gegangen.
Von dort aus hat er die Kuh entdeckt,
am Ende der Weide hat sie gesteckt.

 

Wenn einer nun fragt, wie sie war zu erkennen,
so ist die Nachgeburt nur zu nennen,
die die Kuh nach dem Kalben mit sich schleppte,
die halb hoch über dem Boden schwebte.

 

Was nun zu tun war übrig geblieben:
Richtung Kälbchen hat Martin die Kuh nun getrieben.
Die war den Martin erst gar nicht geneigt
und hat sich am Anfang störrisch gezeigt.

 

Sie wollte den Ort des Kalbens nicht räumen,
sie schien von der Rückkehr des Kalbes zu träumen,
sie schien, um dies nicht zu vergessen,
den Mutterkuchen gerade zu fressen.

 

Doch als sie von weiten ihr Kälbchen erkannt,
ist sie stürmisch in Eile dorthin gerannt.
Mit dem Lecken des Fells hat sofort sie begonnen,
voller Inbrunst des Kälbchens sich angenommen.

 

So hat die Kuh ihr Kälbchen gefunden,
und das Kalb ließ sich hungrig die Muttermilch schmecken.
Nach Menschenart sucht es erst an der Brust,
wird sich aber bald seines Kuhseins bewusst
und findet das Euter und die Zitzen,
die unterm Bauch ganz hinten sitzen.

 

Wir hatten, was möglich war, gemacht,
wir hatten die beiden zusammen gebracht.
So fühlten wir alle uns glücklich und gut,
wie an Weihnachten war es gar manchem zumute.

 

Als wir grad`Abschied vom Kälbchen nahmen,
von Giebringhausen die Kundschafter kamen,
mit dem Nachbarbauern auf Quadrogefährt,
von dem er uns übers Kälbchen belehrt.

 

Da war viel Geschäftssinn und wenig Gefühl,
als wär`s Kälbchen ein Ding nur,
was uns gar nicht gefiel!